«Otti, du muesch cho!»
Stress, Mobbing, den Rücken belastende Arbeiten, unzumutbare WC- und Garderobenanlagen – Otto Dietiker, Präsident der Ergonomie- bzw. Gesundheitskommission bei der PTT-Union, bei den Gewerkschaften Kommunikation und syndicom, kann viel erzählen über die Arbeitswelt. Mit Herzblut setzt er sich ein für die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmenden.
«Otti, du muesch cho!»: Otto Dietiker hat in seinem Gewerkschafterleben viele Male solche Hilferufe gehört und ist möglichst sofort ausgerückt. Was er gesehen hat? Fast Unglaubliches manchmal: Winzige Pausenräume, lärmig und kalt, unzumutbare Frauengarderoben, schmutztriefende undichte Dächer, sogar akute Asbest-Belastungen. Oder, weniger sichtbar, Stress, Mobbing, Belästigungen. Otto Dietiker nahm die Klagen auf, stellte Dossiers zusammen, ging damit zu den Vorgesetzten und suchte zusammen mit Betroffenen nach Lösungen.
«Die Gewerkschaft muss den Gesundheitsschutz ernst nehmen», sagt er. Mit steigendem Konkurrenzdruck, mit der Auslagerung von Dienstleistungen zu privaten Anbietern werden sich die Arbeitsbedingungen vieler Werktätiger in den syndicom-Branchen noch verschlechtern: Da braucht es Wachsamkeit und nötigenfalls Interventionen – mehr denn je. So ist Dietiker zufrieden darüber, dass bei syndicom neu die Stelle eines Gesundheitsbeauftragten geschaffen wurde.
Vom Maschinenschlosser zum Glasfaserspezialisten
Otto Dietiker blickt auf ein reiches Arbeitsleben zurück. In der Druckindustrie hat er Maschinenschlosser gelernt und absolvierte im Baudienst der PTT eine zweite Lehre zum Fernmeldespezialisten. «Die Entwicklung der Telekommunikation vom Kupferkabel bis zur Glasfasertechnik habe ich ganz direkt miterlebt», sagt er. Er bildete sich weiter und übernahm rasch Führungsfunktionen. Viele spannende Aufgaben konnte er übernehmen, war zeitweise auch in Süddeutschland tätig, als die Swisscom zusammen mit EnBW Energie Baden-Württemberg Hochschulen und Grossindustrie ans Glasfasernetz anschloss. «Damals hätte mich die Firma Porsche fast abgeworben», lächelt er.
Der technologische Wandel im Fernmeldewesen in den 1990er-Jahren blieb nicht ohne Auswirkungen. Die ehemaligen Regiebetriebe des Bundes wurden aufgelöst, Post und Telecom splitteten sich auf, aus der Telecom PTT wurde die Swisscom und diese zur AG.
Otto Dietiker gehörte zur Verhandlungsdelegation für den ersten Swisscom-GAV: «Eine harzige, aber für die Swisscom-Mitarbeitenden schlussendlich eine gute Sache.»
Dem Börsengang der Swisscom folgte die grosse Freistellungswelle. Unter dem CEO der Swisscom AG wurde im Jahr 1998 eine Arbeitsgruppe gebildet, die die Freigestellten in eine neue berufliche Zukunft führen sollte. Es entstand das Projekt «Perspektiv», an dessen Ausarbeitung Otto Dietiker als Zentral-Präsident der Branche Telecom beteiligt war.
Einschneidende Erfahrungen
«Es war eine harte Zeit», sagt er. Als Zentral-Präsident der Branche Telecom (und Vertreter der paritätischen Kommission «Perspektiv») hatte er Einsicht in Personaldossiers und musste Freistellungen und unumgängliche Entlassungen mit vorbereiten. Was würde aus den vielen Menschen werden? So genannte Arbeitsmarktzentren (AMZ) wurden geschaffen, um die Beschäftigen anderswo zu platzieren oder beim Schritt in die Selbständigkeit zu unterstützen. «Mir ging es vor allem darum, für Menschen in schwierigen Lebensumständen Lösungen zu suchen, sie nicht einfach fallen zu lassen», so Dietiker. Sehr zu schaffen habe ihm das alles gemacht, fügt er nachdenklich hinzu. Schliesslich sei man einst für seine Firma eingestanden. Otto Dietiker selbst wurde Ende 2000 frühpensioniert.
Seit 42 Jahren ist er aktiver Gewerkschafter, erst bei der PTT-Union, wo er sich in verschiedenen Sektionen und Ämtern engagierte. 1996 wurde er in den Zentralvorstand der PTT-Union gewählt, zwei Jahre später zum Zentral-Präsidenten der Branche Telecom und zum Geschäftsleitungsmitglied bei der Gewerkschaft Kommunikation, bis zur Professionalisierung von deren Milizstrukturen.
Nach der Frühpensionierung und dem Abschied als Zentral-Präsident der Branche Telecom führte Otto Dietiker seine Tätigkeit bei der Ergonomie-Kommission als ehrenamtlicher Präsident weiter. Aus der Ergonomie-Kommission ging die heutige Gesundheitskommission der Gewerkschaft hervor.
Leidenschaft für schwere Maschinen
Otto Dietiker hat sich ein breites Wissen über Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit angeeignet; geholt hat er sich dieses im Selbststudium, an Weiterbildungen und in der Zusammenarbeit mit Arbeitswissenschaftlern von Unis und internationalen Institutionen.
Im Schweizerischen Gewerkschaftsbund ist er in der Kommission Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz tätig. Er erteilt Kurse am gewerkschaftlichen Bildungsinstitut Movendo und hat Broschüren über Gesundheit am Arbeitsplatz sowie ein Ergonomie-Handbuch für die Swisscom erarbeitet. Als einziger Gewerkschafter wurde er in die Begleitgruppe zum «Aktionsplan synthetische Nano-Materialien» des Bundesamts für Gesundheit gewählt.
Otto Dietiker ist jetzt 68. Er findet es an der Zeit, kürzerzutreten; einerseits aus gesundheitlichen Gründen, aber auch um mehr Musse zu haben und seinen Interessen nachzugehen. Seit seinen Jugendjahren ist er leidenschaftlicher Motorradfahrer, fährt eine schwere Honda Gold Wing und ist Mitglied des Gold-Wing-Clubs Schweiz. Zweimal fuhr er mit seiner Frau Agnes durch Amerika, von Mexiko bis Alaska. Jetzt aber hat er noch anderes im Sinn: «Ich möchte an die Universität gehen. Vor allem Geschichte interessiert mich sehr.»
* Charlotte Spindler ist freie Journalistin in Zürich.