Hinter den Dossiers die Menschen
Wer arbeitslos wird, empfindet oft Wut, Trauer, Angst – und muss sich zugleich mit vielen praktischen Fragen auseinandersetzen. Ein Glück, wenn die gewählte Arbeitslosenkasse gut «funktioniert».
Genau dies möchte die Arbeitslosenkasse von syndicom sicherstellen. Ursprünglich von comedia ins Leben gerufen, hat sie sich seit der Fusion dieser Gewerkschaft mit der Gewerkschaft Kommunikation stetig weiterentwickelt: schon bald übernahm Giorgio Pardini, Leiter Sektor Telecom/IT bei syndicom, auch die Führung der Kasse und gleiste sie neu auf. Nun ist Beatrice Fontana seine Stellvertreterin und zugleich Teamleiterin; sie treffe ich auch an der Looslistrasse 15 im Berner Stöckackerquartier – am selben Ort, wo sich das Berner Regionalsekretariat der Gewerkschaft befindet. Trotzdem ist die dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco verpflichtete Arbeitslosenkasse eine von syndicom unabhängige Einrichtung und darf nicht etwa Mitglieder werben – auch wenn ihre Trägerin die Gewerkschaft ist. Es ist jedoch von nicht zu unterschätzender politischer Bedeutung, dass syndicom eine Arbeitslosenkasse führen kann – unter den Gewerkschaften des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds tut dies sonst nur noch die Unia. Neben den staatlichen gibt es natürlich noch weitere private Arbeitslosenkassen. Wenn sich aber eine Gewerkschaft um Arbeitslose kümmert, hat sie auch – und sei es über den Weg von Referenden – die Möglichkeit, auf die entsprechenden Gesetzesrevisionen stärker Einfluss zu nehmen, wie sich in den letzten Jahren zeigte. Zudem hat man bei der Arbeitslosenkasse von syndicom Erfahrung, wenn es um Fälle aus dem Medienbereich geht. Recht viele der rund 360 Dossiers, welche die Kasse gegenwärtig betreut, betreffen das Druckereigewerbe. Allerdings sind die meisten Dossiers nicht solche von Gewerkschaftsmitgliedern.
Zurück zu Beatrice Fontana: Als wir uns treffen, ist sie allein in dem Grossraumbüro, in dem an anderen Tagen noch Raffaella Bürki und Stefanie Thomann sowie für die Buchhaltung Daniela Vargiu in Teilzeit arbeiten. Allein und doch nicht allein: denn die vielen Dossiers auf ihrem Pult und in den Hängeregistern bedeuten ebenso viele Menschen und Schicksale. Und auch wenn auf dem Pult der stellvertretenden Kassenleiterin die Rechenmaschine zeigt, dass sich hier alles um Zahlen, Zahlen und noch einmal Zahlen dreht: letztlich geht es doch um viel mehr. Das Engagement für ihre Aufgabe ist Beatrice Fontana deutlich anzumerken: sorgfältig und gut will sie machen, was sie zu tun hat. Und das ist nicht wenig: Neben Telefon- und Schalterdienst, wo Versicherten und Ämtern Auskunft gegeben wird, gilt es, Dossier um Dossier zu bearbeiten, und auch die monatlichen Berichte der Versicherten.
Zwei Bücher liegen griffbereit: das Arbeitslosenversicherungsgesetz AVIG und das Obligationenrecht. Beiden sieht man an, dass sie oft zur Hand genommen werden – in einem sind schon ein paar Seiten lose, im anderen stehen viele Randnotizen. Schliesslich geht es ja auch um Fragen, die für die Betroffenen von existenzieller Wichtigkeit sind: Welche Ansprüche auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung bestehen? Gibt es eventuell Einstellungsverfügungen oder Wartetage zu erlassen? Die Versicherungsleistungen müssen berechnet und sollen pünktlich ausbezahlt werden. Einsprachen und Beschwerden gilt es zu beantworten, und wenn Fristen nicht eingehalten werden oder Kündigungen missbräuchlich sind, müssen auch Einsprachen verfasst werden. Abklärungen mit Versicherten, Arbeitgebern, Ämtern und Behörden stehen an, manchmal sogar ein Gerichtstermin.
Der Aufgaben sind noch mehr: zum Beispiel in Zusammenhang mit Zwischenverdiensten oder Berufspraktika, mit selbständiger Erwerbstätigkeit oder diversen Zuschüssen, mit «Subrogation» (also Vorleistungen, wenn ein Arbeitgeber nicht zahlen will), mit IV-Fällen, Erlassgesuchen oder – mit Aussteuerungsmeldungen an Versicherte. Viel Papier (im Moment jedenfalls noch, die Digitalisierung der Daten ist geplant). Aber eben nicht nur.
Manche der Schicksale gehen Beatrice Fontana besonders nahe: jenes einer an Krebs erkrankten Frau zum Beispiel. Da sie länger als ein Jahr und einen Tag (und nicht direkt aus ihrer Berufstätigkeit heraus) krank gewesen war, als sie sich ans Arbeitsamt wandte, bekommt sie nur 90 Taggelder. Und die ihr zustehenden Leistungen werden nicht aufgrund ihres letzten Verdienstes, sondern mit einer Pauschalen-Tabelle berechnet, die sich nach der letzten abgeschlossenen Ausbildung richtet. Seit dem 1. April, als das neue Arbeitsgesetz in Kraft trat, gibt es nicht wenige solcher Härtefälle – trotzdem liebt Beatrice Fontana ihre Arbeit. Gerade auch weil es immer etwas dazuzulernen gibt. Und dann hat die Mutter dreier schon erwachsener Kinder noch ein gutes Rezept, um im Gleichgewicht zu bleiben – sie tanzt leidenschaftlich gern: «Da kann ich alles vergessen und fühle mich frei – dann gibt es keine Probleme mehr!»