Diskussion mit Viscom: GAV – wie weiter?
Der Arbeitgeberverband der grafischen Industrie Viscom hat Ende letzten Jahres die Verhandlungen um einen neuen GAV abgebrochen. Seit 1. Januar 2013 gilt der vertragslose Zustand. Die Fronten sind verhärtet: Viscom pocht auf die Möglichkeit, die 42-Stunden-Woche einzuführen und die Nacht- und Schichtzuschläge zu senken. Für die Gewerkschaften sind das unannehmbare Forderungen. Die Mitgliederzeitungen beider Seiten baten die Parteien um ein Gespräch.
Bitte erläutern Sie den Leserinnen und Lesern nochmals Ihre Positionen und Forderungen, die Sie in die GAV-Verhandlungen eingebracht haben.
Roland Kreuzer: Unsere Forderungen waren eine Antwort auf die schwierige Situation der grafischen Industrie in der Schweiz: Ausweitung und Durchsetzung des bestehenden GAV mit der Allgemeinverbindlichkeit, Errichtung eines Bildungszentrums, damit sich die Beschäftigten angesichts der noch zu erwartenden Veränderungen auch für die Zukunft qualifizieren können, Verbesserung der Lehrlingslöhne, Möglichkeiten der Frühpensionierung, um den zu erwartenden Stellenabbau abzufedern, Erhöhung aller Mindestlöhne und Lohnkontrolle bezüglich Gleichstellung.
Thomas Gsponer: Wir wollen einen zeitgemässen GAV, der den Unternehmen grössere Flexibilität und Handlungsspielraum bietet, sowie strukturelle Mängel des bestehenden Vertrages beseitigt. Konkret wollten wir mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung, das heisst: Einführung der 42-Stunden-Woche und die Beseitigung der viel zu hohen Nachtzuschläge, welche in unseren Augen ein Fehlkonstrukt darstellen.
Wo haben Sie Kompromissbereitschaft gezeigt, und wo blieben Sie kompromisslos?
Tibor Menyhárt: Wir haben angeboten, auf alle unsere Forderungen zu verzichten zugunsten unseres Kompromissvorschlags, den alten GAV allgemeinverbindlich weiterzuführen. Erst als das rundheraus abgelehnt wurde, haben wir unsere restlichen Forderungen vorgebracht und wären auch da zu Kompromissen bereit gewesen.
Roland Kreuzer: Kompromisslos sind wir bei der Senkung der Zuschläge, weil wir da schon vor vier Jahren grosse Abstriche gemacht haben, und bei der Arbeitszeitverlängerung, weil diese aus unserer Sicht zu einem massiven Stellenabbau führen würde.
Cyrine Zeder: Wir haben grosse Kompromissbereitschaft gezeigt bei den Mindestlöhnen. Ausserdem haben wir festgehalten, dass die Gleichstellung umgesetzt werden muss. Wir waren bereit, die Lehrlingslöhne anzupassen und den 13. Monatslohn für Auszubildende einzuführen. Ein Modell für Frühpensionierungen sollte geprüft werden, und wir fanden einen gemeinsamen Kompromiss bei der Aus- und Weiterbildung. Wir waren sogar bereit, eine paritätische Kontrollstelle zur Einhaltung des GAV einzurichten. Wir haben also auf eine totale Entschlackung des GAV verzichtet.
Thomas Gsponer: Zu Beginn der Verhandlungen hatten wir explizit die 42-Stunden-Woche gefordert und dann einen eleganten Kompromiss formuliert. Nämlich, dass die Akzidenz-Betriebe die 42-Stunden-Woche in Abstimmung mit dem Personal einführen können, also freiwillig. Auch bei den Zuschlägen haben wir die Verhandlungen auf dem Niveau des Arbeitsgesetzes begonnen und waren dann bereit, auf 60/50 Prozent beim Zeitungsdruck und 50/40 Prozent im Akzidenzdruck zu erhöhen.
Roland Kreuzer: Aber wir wissen doch, wie das mit der «Freiwilligkeit» in der Praxis läuft: Das Personal wird unter Druck gesetzt, sich «einverstanden» zu erklären, sonst wird gekündigt. Wir forderten ursprünglich eine Erhöhung aller Mindestlöhne inkl. Stufe fünftes Jahr und haben schliesslich auf eine Erhöhung der Löhne in der Weiterverarbeitung verzichtet. Weiter fordern wir bei der Gleichstellung auch eine paritätische Lohnkontrolle, denn ohne Kontrolle ändert sich da nichts. Und bei der Frühpensionierung hat Viscom nur einer Arbeitsgruppe zugestimmt, das Gleiche hatten wir vor vier Jahren schon bezüglich Allgemeinverbindlichkeit, die heute noch nicht erreicht ist. Auch bei der Weiterbildung sind wir dem Viscom weit entgegengekommen.
Seit 1. Januar 2013 herrscht in der grafischen Industrie ein vertragsloser Zustand. Wie beurteilen Sie die Situation und was sind die nächsten Schritte von Ihrer Seite?
Roland Kreuzer: Wir haben eine Urabstimmung durchgeführt, bei der 95 Prozent für Kampfmassnahmen votiert haben. Im vertragslosen Zustand entfällt auch die Friedenspflicht. Mit der wiederholten Empfehlung an seine Mitglieder, die 42-Stunden-Woche einzuführen und die Schichtzuschläge zu reduzieren, hat sich Viscom von der Sozialpartnerschaft verabschiedet. Wir sehen unsere Massnahmen als Antwort auf diese Kampfansage.
Thomas Gsponer: Unsere Betriebe erhöhen doch nicht die Wochenarbeitszeit, weil es en vogue ist, länger zu arbeiten! Es geht darum, Antworten auf die Herausforderungen der Branche zu finden. Nachdem die Gewerkschaften unser Dreier-Paket mit 42-Stunden-Woche, Reduktion der Zulagen sowie der Anhebung der Mindestlöhne abgelehnt haben, hat der Viscom-Zentralvorstand am 10. Dezember beschlossen, im ersten Quartal 2013 Hearings bei den Mitgliedern durchzuführen, um anschliessend über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Man darf nicht vergessen: wir haben ein Mandat von unseren Delegierten.
Wie stehen Sie angesichts des Umstandes, dass es zu einem Arbeitskampf kommen könnte, zur Sozialpartnerschaft?
Thomas Gsponer: In den Verhandlungen haben wir gute Kompromisse erzielt. Aber wir haben auch von Anfang an gesagt, was unsere Hauptforderungen sind und was wir nicht wollen. Es gilt nach wie vor unser Angebot vom 22. November: Ausgehandelter GAV mit 42 Stunden und Reduktion der Zuschläge. Auf ihren Brief vom 1. Februar haben wir den Gewerkschaften geantwortet, dass sie uns einen Gegenvorschlag machen können. Solange der nicht «GAV-Verlängerung mit Allgemeinverbindlichkeit» heisst, können wir uns vorstellen, wieder an der Verhandlungstisch zurückzukehren.
Roland Kreuzer: Sie fordern von uns, auf Kampfmassnahmen zu verzichten. Aber gleichzeitig fordern Sie Ihre Mitglieder auf, die Arbeitszeit zu erhöhen und die Zuschläge zu senken. Das sind aus unserer Sicht Kampfmassnahmen. Wenn es unsererseits zu Kampfmassnahmen kommt, sind sie provoziert durch Betriebe, die Ihren Empfehlungen Folge leisten.
Sind Sie bereit, an den Verhandlungstisch zurückzukehren, um eine Lösung zu finden für einen GAV-Abschluss?
Tibor Menyhárt: Wir sind jederzeit bereit, an den Verhandlungstisch zurückzukehren.
Thomas Gsponer: Da die Gewerkschaften unser Angebot abgelehnt haben, ist derzeit eine Rückkehr an den Verhandlungstisch ausgeschlossen. Wir werden nach den Ergebnissen unserer Hearings sehen, wie es weitergeht. Wir haben den Gewerkschaften die Chance gegeben, einen Gegenvorschlag einzureichen. Wenn Sie sich bei der Wochenarbeitszeit und den Zuschlägen nicht bewegen, gibt es keine Verhandlungen.
Roland Kreuzer: Wenn man verhandeln will, stellt man doch keine Vorbedingungen, sondern respektiert, dass offen und lösungsorientiert weiterdiskutiert werden muss! Wir sind dazu bereit.
Tibor Menyhárt: Wir haben angeboten, den GAV nur einige Monate zu verlängern, damit wir in Ruhe weiterverhandeln können. Viscom hat abgelehnt. Wir wollten von Anfang an acht Verhandlungstage, aber Viscom stellte nur sechs zur Verfügung. Vielleicht haben uns genau diese zwei Tage gefehlt, um zu einem Ergebnis zu kommen. Und jetzt ist es mit der Ruhe vorbei. Wir haben keine Sozialpartnerschaft mehr.
Warum sind die Einführung der 42-Stunden-Woche und die Reduktion der Nachtschichtzuschläge so wichtig für Viscom?
Thomas Gsponer: Wir sind konfrontiert mit einem Rückgang des Druckvolumens, einer Veränderung des Kommunikationsverhaltens, der Internationalisierung der Druckmärkte und einem enormen technischen Fortschritt. Wir müssen handeln, damit der Druckstandort Schweiz wettbewerbsfähig bleibt und damit verbunden viele Arbeitsplätze erhalten bleiben. Mit der freiwilligen Arbeitszeitverlängerung und der Reduktion der Zuschläge auf ein vernünftiges Mass können wir die Lohnstückkosten reduzieren. Gerade die 42-Stunden-Woche hat für beide Seiten Vorteile gegenüber allen anderen Massnahmen: die Mitarbeitenden arbeiten zwar länger, haben aber keinen Reallohnrückgang. Selbstverständlich wird es auch zu Rationalisierungseffekten kommen. Einfach nicht flächendeckend und nicht bei allen Betrieben.
Viscom bekennt sich zur Sozialpartnerschaft, hat aber die GAV-Verhandlungen abgebrochen. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?
Cyrine Zeder: Ich finde den Vorwurf der Gewerkschaften, der Viscom missachte die Sozialpartnerschaft, übertrieben. Wir geben nur in zwei Bereichen Empfehlungen ab. Bei allen anderen stehen wir dafür ein, die Vereinbarungen des alten GAV einzuhalten, trotz vertragslosem Zustand. Würden wir unseren Mitgliedern empfehlen, sich künftig nur noch an das OR oder das Arbeitsgesetz zu halten, wäre der Vorwurf berechtigt. Aber so ist er völlig deplatziert.
Tibor Menyhárt: Sie meinen, es sei deplatziert, wenn wir uns für unsere Mitglieder wehren? Sie wissen doch selbst, dass nicht wir von der Gewerkschaftsspitze unsere Verhandlungsposition bestimmen. Es ist unsere Basis, die hier ganz klar Nein sagt. Wir haben dem Viscom am ersten Verhandlungstag mitgeteilt, dass seine Vorschläge unannehmbar sind, so wie für ihn eine Verlängerung des GAV mit Allgemeinverbindlichkeit nicht in Frage kam. Da müssen beide Seiten neue Ideen bringen. Aber das kam Ihrerseits nie, sondern immer nur die Repetition Ihrer Hauptforderungen.
Thomas Gsponer: Bitte hören Sie doch von Gewerkschaftsseite auf, immer diese dogmatischen Positionen zu vertreten. Wir fordern ja nicht eine flächendeckende Einführung der 42-Stunden-Woche. Vielmehr sollen die Betriebe, in Absprache mit ihren Mitarbeitenden, wählen können, ob sie in ihrer spezifischen Situation die Arbeitszeit verlängern wollen.
Warum soll es Sinn machen, in einer Branche mit Überkapazitäten die Arbeitszeit zu erhöhen? Führt das nicht zum Abbau Hunderter von Stellen?
Thomas Gsponer: Wir haben einen völlig anderen Ansatz: über höhere Arbeitszeiten wird die Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe gestärkt, weil wir tiefere Lohnstückkosten haben. Es entsteht neue Dynamik im Markt und die Arbeitsplätze werden sicherer.
Roland Kreuzer: Unsere Branche wird in den nächsten Jahren nicht wachsen. Das sind Realitäten, die man weder mit Arbeitszeiterhöhung noch mit einer Senkung der Zuschläge ändern kann. Wenn die einen noch länger arbeiten, bleiben doch zwangsläufig weniger Arbeit und Stellen für die anderen.
Wie schätzen Sie die Gefahr ein, dass Grossbetriebe mit hohen Kapazitäten die Reduktion der Zuschläge nutzen werden, um mit ihren günstigeren Nachtstunden den Betrieben ohne Nachtarbeit Aufträge abzujagen?
Tibor Menyhárt: Solche Entwicklungen sehen wir bereits sehr deutlich. Jüngstes Beispiel ist der Fall der «Freiburger Nachrichten»: Weil die Tamedia ein Angebot gemacht hat, das 40% unter dem der Imprimerie St-Paul liegt, wird St-Paul auf Ende 2014 ihre Zeitungsdruckerei schliessen, und 50 Menschen verlieren ihre Arbeitsstelle. Gerade im Zeitungsbereich, der ja nicht im internationalen Wettbewerb steht, wird die Reduktion der Nachtschichtzuschläge zu einer Spirale nach unten führen. Davon werden in erster Linie die Grossbetriebe profitieren, die die kleineren Anbieter in die Ecke drängen. Das wird zahlreiche Menschen den Job kosten.
Thomas Gsponer: Wir können doch nicht die Augen vor den wirtschaftlichen Realitäten verschliessen. Betriebe, die industriell ausgerichtet sind, können ihre Investitionen nur amortisieren, wenn sie mehrschichtig arbeiten. Diese Betriebe sind heute doppelt belastet: sie zahlen schon branchenüblich hohe Basislöhne, und dann kommen Nachtschichtzuschläge von bis zu 70 Prozent oder mehr dazu. Keine andere Industrie- oder Dienstleistungsbranche in der Schweiz zahlt für Nachtarbeit solche Zuschläge! Wir sehen doch schon heute, wie viele Aufträge ins Ausland abwandern. Die Restrukturierung ist in vollem Gang, diese können wir nicht stoppen. Mit der Flexibilisierung werden wir die 23 000 Arbeitsplätze, die wir jetzt noch haben, nicht alle retten können. Aber wir machen die Branche wettbewerbsfähiger gegenüber dem Ausland und können den Anpassungsprozess sanfter gestalten.
Roland Kreuzer: Ich verstehe nicht, warum der Viscom nicht stolz auf seinen GAV ist und auf die Allgemeinverbindlichkeit pocht. Der Glaube an den Markt fehlt mir. Man muss den Markt regulieren, und GAV sind ein Mittel zur Regulation. Wenn man den Markt sich selbst überlässt, passieren solche Sachen wie jetzt in Freiburg. Und das wird weitergehen.
Dieser Artikel erscheint in gleicher Form in den Zeitungen von syndicom, Syna und Viscom.